Zen-Jou III

Kehre: zum Authentisch-Identischen
Der heutige Mensch kann Gemeinschaft in umfassender Weise nicht leben, weil er doch vorrangig das Seine sucht und dies gerechtfertigt glaubt. Vom Verständnis unserer gegenwärtigen Lebens-Welt wird sein Verhalten nicht nur gefördert, sondern ihm sogar suggestiv aufgedrängt. Sein Umfeld fordert von ihm Ich-Stärkung, die ihn in eine dreifache Isolation treibt: von sich selbst, von seinem Lebens-Feld und letztlich vom Leben-an-sich. Entwurzelt verfängt er sich in den Fallstricken von jederlei Vertrauens-Ersatz. Um sein wahres Gesicht zu verbergen, fordert die Flucht vor sich selbst, die sein in-der-Welt-sein unterminiert, einen Ersatz, der ihn stimuliert, 'excitements': Erlebnisse des Besonderen; das Verlangen nach 'Satori' - Erleuchtung - ist ebenfalls hiervon nicht frei. Das Gefundene erweist sich immerzu als unzulänglich, denn es hält nicht, was es verspricht. Wonach er in Wirklichkeit verlangt, weiß er selbst nicht. Das permanent sich bewegende und gereizte Bewusstsein erfährt darin absurderweise seinen normalen Zustand. Wie eine Sucht treibt ihn krankhaft ein Etwas, das ihn nicht loslässt. Weil ihm das Täuschende authentisch erscheinen kann, verfällt er in seiner Verwirrung und Verirrung blindlings den wahr-falsch vermischten Lehren: Aus seiner Verblendung folgt Enttäuschung. Diese Erfahrung seines Nicht-erfüllt-werdens kann für ihn auch zur Chance werden, dass in seinem Suchen eine gewisse Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit wachgerufen wird, was in ihm den Durst nach der Wahrheit, ihr zu begegnen, ja sie zu empfangen, nicht versiegen lässt.
Wer der Stimme, dem Lebens-Impuls, aus seinem tiefsten Innern – der Identität der Kern-F – folgt und sein Angenommen-sein vom Leben-Selbst in ihm gegenwärtig bleibt, wird zu einem in Wahrheit Lebenden: ( Joh 3,2ff; 1 Joh 3,1-10). So ein Mensch kann nicht in die Machenschaft fallen, sei es aus dem Eigenwillen oder aus Ängsten. In dem Maße, wie er von sich selbst frei geworden ist – weil er primär das Seine nicht mehr sucht -, bestimmt sich sein Tun aus der Identität. Derjenige dagegen, der den in ihm gelegten Grund ignoriert, muss sein Leben selbst in die Hand nehmen und tragen; vermag er dies nicht, wo bleibt dann die Last?
Deshalb, weil wir Menschen schon bei der Geburt eine Identitäts-Schwäche aufweisen, sind wir alle – wissend oder unwissend - auf der Suche nach dem Identischen. Wird das Innerste dessen, was unser Leben trägt, in uns nicht wach, dann mag dieses Verlangen uns suggerieren: DU MUSST ETWAS SEIN; das ist die Weiche, die uns Menschen in das Etwas-machen führt. Solch ein Verhalten scheint das Einholen des Gesuchten zu garantieren - als entspräche das Erzielte dem vorgestellten Ideal -, doch, eher treibt es uns in das innerweltlich fixierte Flickwerk. In das Machen verstrickt zu sein ist eine moderne Krankheit, ja eine Seuche, von der die Menschheit nicht nur bedroht, sondern bereits angesteckt ist. Je tiefer ein Mensch in das, sich selbst zu bestätigen, hineinfällt, desto weniger wird er empfänglich für den Lebens-Impuls. Trotz seiner Überzeugung, etwas getan zu haben, ist er entfremdet von seinem Grund und wird selbst der Hilfe bedürftig. Den hier wirkenden und sich durchsetzenden Zwängen hilflos ausgeliefert hält er Ausschau nach einem alternativen Lebensvollzug. Deshalb äußert er sich in seinem Handeln 'helfend', worin sein Not-Schrei, dass er selbst der Hilfe bedarf, verborgen ist. Dieser Schrei, angenommen zu werden, dessen er sich oftmals nicht bewusst ist, kommt aus seiner Vereinsamung, die er allein nicht zu tragen vermag. Machbarkeits-Ansprüche, das Verfügen-wollen des Lebens - seinen Tanz um das goldene Kalb - gab es zu allen Zeiten, dessen Ursache die Identitäts-Schwäche ist. Der heutige Mensch aber ist in dieser Hinsicht durch die mannigfaltigen Möglichkeiten geblendet, so dass er das Unfassbare des Lebens zu verfügen trachtet: Er will für sich selbst Herr sein. Das ’Um … zu’ hat in allem Priorität. Deshalb kann die Ignoranz - gepaart mit Herrschaft und Unterdrückung - alles Lebende diesem Ansinnen unterwerfen.
Weshalb ist es für viele Menschen so schwierig, das in uns eingeschriebene Gesetz des Lebens anzunehmen, ja damit in Übereinstimmung zu handeln? Weil das derzeitige Bewusstsein die Verabsolutierung des individuellen Verlangens für legitim hält, kann es das Vergehen am Leben rechtfertigen. Außerdem ist jenes universale Gesetz ein fundamentales Hindernis, um die sich selbst gegebene Pseudo-Ordnung zu praktizieren. Dafür ist das Grund-Verständnis dessen, was das Leben in Wahrheit ist, bedeutungslos geworden. Das hier entstandene Vakuum verlangt nach einem Ersatz, der permanent durch einen anderen ersetzt werden muss, da er keine Beständigkeit aufweist. Liegt es nicht deshalb nahe, das Hier-sein im Vergänglichen zu verewigen? Ist das nicht ein Selbst-Betrug? Diese sich selbst auferlegte Handhabung des Lebens kann eigentlich nur durch die Akzeptanz der in uns eingeschriebenen Grund-Ordnung aufgedeckt und widerlegt werden, um uns die Nicht-Trennbarkeit von Leben und Tod wieder bewusst zu machen. Hier berühren wir das aus dem heutigen Lebens-Verständnis verbannte Ur-Problem: die Überwindung von Leben und Tod. Das will sagen: Im Lebens-Fluss des Irdischen – von der Geburt bis zum Tod - selbst gilt es, das Darüber-hinaus, das Überirdische des Lebens, zu ent-decken.
Erst im Spiegel der Identität der Kern-F vermögen wir das uns verborgene Selbst-Bild zu erkennen. Zwar schauen wir in diesem Spiegel den Zwiespalt, dass dieses Bild sich aus dem Abbild in der Identität entzweit hat, überbrückt aber kann diese Kluft nur werden, indem das Darüber-hinaus des Abbildes in den Blick kommt. Um mit dem Abbild des Lebens – dem Authentischen – identisch zu werden, müssen wir von jeglichem selbst eingebildeten Zerrbild in uns frei werden: Nur aus uns selbst ist dies jedoch nicht zu bewältigen. Zerrbilder des Lebens entstehen aus dem selbst-gefälligen Haften an allem; die sich selbst täuschenden Affekte können ein Dasein bis zur Karikatur entstellen. Die grundsätzliche Frage ist hier: Wie lässt sich ein derartiger Konflikt lösen, wie wird aus der Beschwernis ein Verlangen geboren, davon befreit zu werden? Das Befreit-werden von Leiden hat zur Bedingung, dass dessen Verursachung im Durchleiden des zu Erleidenden einsichtig wird, denn erst hierdurch ist das der Umkehr entgegenwirkende Ansinnen an der Wurzel zu treffen. Wird ein das Leiden verursachendes Ansinnen nicht aufgedeckt, aus seinem Humusbeet nicht entwurzelt, mit anderen Worten, wird das Emotionale nicht überschritten, dann bleibt solch ein Bemühen in einer erneut sich selbst täuschenden Suggestion stecken: Du hast es geschafft, also bewahrt bleibt der Ist-Zustand. Deshalb stellt sich das gesuchte Frei-werden erst im bewusst angenommenen Durchleiden des Zerrbildes unseres Lebens, ja der Karikatur aus der Ablehnung seines Verwiesen-seins, ein. Das Durchleiden mindert das bisher verfügende Gehabe und öffnet die Möglichkeit, das uns wirklich Leben-lassende zu empfangen.
Um diesen Weg der Befreiung einzuschlagen, müssen wir zunächst der eigenen Ohnmacht innewerden. Gibt es jemanden, der in seiner alltäglichen Lebens-Bewältigung nicht erfährt, wie unvollkommen er ist? Kann er doch nicht feststellen, dass er trotz seines Verlangens und Suchens aus eigener Kraft sich selbst nicht zu ändern vermag? Im Erfahren des erneuten Scheiterns, die eigene Gebrechlichkeit zu überwinden, lernen wir uns selbst anzunehmen, wie wir sind, und dadurch wächst die Bereitschaft, uns ändern zu lassen. Dieser demütigende und zu erduldende Weg ist nichts anderes als Übung und Verzicht.
Reift in uns die Bereitschaft zu diesem Weg, der ein Werk ist und den wir in seiner Komplexität mit dem Begriff Shugyō bezeichnen, dann stellt sich für den Suchenden die grundsätzliche Frage: Ist seine Weg-Praxis ganzheitlich oder nur partikular bezogen erfasst? Mit anderen Worten: Kann zwar das ganzheitlich noch nicht Eingeholte, aber doch soweit als ideelle Zielvorgabe im Praktizieren des Weges wirksam sein, oder ist hier das Bemühen selektiv nur auf Partikulares ausgerichtet? Letzteres ist ein Wollen des Frei-werdens von mit sich geschleppten Lasten, gleichzeitig kann es gekoppelt sein mit einer Absicht, sich selbst zu bestätigen. Das hier wirksame Bestätigt-werden-wollen ist der in uns tief eingewurzelte und deshalb verborgene Widersinn zum Leben-Selbst. Indem die das Leben verneinenden Potenzen sich sukzessiv als wahr, ja als unwiderlegbar ausgeben, um nicht als Illusion oder als Idol bloßgelegt und dadurch nicht in Frage gestellt zu werden, versuchen sie den Praktizierenden auf seinem Weg zu verführen. Hier berühren wir die Wurzel des in uns verborgenen Dunklen aus Gier, Zorn und Unwissen, dessen konkretes Erfahren uns in verdorbenen Absichten bindet und folglich unsere Lebenspraxis belastet.
Weil uns auf dem zu praktizierenden Weg das unser Leben Verderbende, welches zertrümmert werden muss, bewusst wird, stellt sich die Frage nach der hierfür notwendigen Unterweisung: Was wird initiiert, wie und in welcher Hinsicht? Das unerlässliche, initiatorische Moment kann prinzipiell in dreifacher Hinsicht wirksam sein: das Leben zu verwerfen, es zu achten oder aber diesem uneingeschränkt – ohne wenn und aber - verbunden zu werden. Sollen die das Leben tragenden Vermögen initiatorisch wachgerufen und entstört werden, dann muss der Initiant selbst offenbar in dieser Verfasstheit stehen; allerdings sollten wir hier die vielen Möglichkeiten eines Dazwischen - dessen Mehr oder Weniger - nicht aus dem Blickfeld verlieren. Leider ist es eine Tatsache, dass die das Leben irritierenden, es in die Irre führenden Initiationen häufig sind, welche den Initiierten noch tiefer von sich selbst und damit von dem ihn Erhaltenden - indem ihm dessen Gegenteil suggeriert wird - trennen. Wer diesen Weg gehen will, muss der Lehre, sich selbst gering zu achten, stets folgen; dies gilt umso mehr für den, der andere Menschen führen will ( Lk 14,11).
Das Wahr-nehmen von uns selbst und des uns Waltenden ist untrennbar: Je tiefer wir die eigene Armseligkeit einsehen, desto spürbarer wird in unserem Innern die Kraft des uns Tragenden, vermittelt in der Identität der Kern-F. Durch die Erfahrung der eigenen Ausweglosigkeit und des mehrfachen Erleidens sollte allmählich der Eigendünkel verschwinden und dementsprechend Zuversicht wachsen, dass wir nicht allein gelassen sind, es sei denn, dass wir doch bloß das Eigene, was es auch sei, suchen.
Sollen wir zu dem in uns Grundgelegten und seiner Voraussetzung – der Identität der Kern-F und ihr Verwiesen-sein – wachgerufen werden, sind wir darauf verwiesen, unmittelbar vom Leben-Selbst berührt zu werden, was sich allerdings mittelbar ereignen kann, denn dessen initiierendes Moment ist auch in allem Geschaffenen gegenwärtig. Hier kommen wir der eigentlichen Bedeutung von Shugyō, seiner damit intendierten Orientierung am Leben-Selbst, näher. Denn, will das in uns gründende Leben in seiner Ursprünglichkeit - Gewissheit und Lauterkeit - empfangen werden, um dem Leben-Selbst Einlass zu gewähren, muss alles Ungleiche zu ihm sich lösen. Dieses Erwachen ist authentisch, ohne selbst oder fremd verursachte Täuschung. Der hiermit offerierte Prozess, in dem das Verzichten auf jegliches Anhaften in der Übung für uns zur Wirklichkeit werde, ist an den uns mit dem Leben-Selbst einenden Weg unabdingbar gebunden ( Mt 23,10; Spr 8,32-36).

P. Gebhard Kohler
www.zen-jou.org
Fassung vom Oktober 2009

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