Zen-Jou I

Schweigen-Beten-Sitzen

Dem im Menschen gegebenen Lebens-Impuls liegt das dynamische Verhältnis von Bewegung und Ruhe zugrunde. Wird aber dieses Ausgewogen-sein in seinem Zueinander gestört, dann verliert der Impuls seine Wirksamkeit. Im Bestreben, unser Leben zu meistern, ist unsere Aufmerksamkeit weitgehend - in illusionärer Weise - nach außen gerichtet, in der vermeintlichen Annahme, als bekämen wir von dort hierzu die Kraft. Je mehr aber solch eine Fixierung unser Bewusstsein dominiert, desto weniger kann der Lebens-Impuls wirksam werden. Diese einseitige Orientierung nach außen verursacht unsere Zerstreuung und Unruhe. Das notwendige Korrektiv hierfür wird unvernehmbar; selbst dieses kann im äuβersten Fall auβer Kraft gesetzt werden.
Das Korrektiv aber für die Balance unserer Kräfte in einem bloßen Schema - Bewegung auβen und Ruhe innen - zu suchen, verblendet und fesselt uns in einer dualistischen Sichtweise, in der die Lösung für den hier vorliegenden Konflikt nicht zu finden ist. Die Einheit der Dynamik von Bewegung und Ruhe berührt widerspruchslos den innersten Vollzug des Lebens. Diese Zuordnung im Inneren will sich auch in den äuβeren Lebensvollzügen analog verwirklichen. Hier liegt der Schlüssel zur Überwindung des dualistischen Schematismus. Im Eigentlichen der inneren so wie der äußeren Lebens-Dynamik müssen wir das sie - Bewegung und Ruhe - je Verbindende in den Blick bekommen, damit uns im Bestreben der gesuchten Balance das rechte Schweigen, Beten und Sitzen gelingen.
In der Bewegung waltet das Moment der Ruhe, in der Ruhe das Moment der Dynamik: absolute Stille ist höchste Bewegung, im höchsten Tätig-sein herrscht absolutes Gesammelt-sein. Die hier - für unser dualistisch programmiertes Bewusstsein - erfahrene Paradoxie ist im Shugyō, Übung und Verzicht, aufzulösen. Durch die auf diese Art erzielte Konzentration kann das Faktum der Einheit von Bewegung und Ruhe in der hier zwar gegenwärtig wirkenden, aber verhaltenen Dynamik als authentisch erfahren werden. Mit anderen Worten: erst wenn uns der Eigen-Wille und dessen Akt-Muster - die Dispositionen - nicht mehr beeinflussen, können wir von wahrer Ruhe sprechen. Ebenso verhält es sich mit der Bewegung: in dem Maβe, wie sie frei wird von intendierten Zwecken, wird auch ihr authentisches Moment vernehmbar. Solange sich aber der Widerspruch in den Dispositionen nicht wirklich löst, ist weder Schweigen noch Tätig-sein authentisch. Um jenes dynamische Verhältnis im Beten und Sitzen zur Einheit zu führen, praktizieren wir Übung und Verzicht. Das ist: im Untätigen tätig, im Steten unstet zu sein.

Schweigen
Unser Identitäts-Mangel, um dessen Ausgleichs willen wir entfremdet vom eigenen Lebens-Impuls handeln, verursacht Fehlverhalten und Leiden. Dass wir uns weder des Mangels noch seiner Ursache bewusst sind, ist ein nicht zu unterschätzendes Problem. Irregeführt suchen wir deshalb den Ausgleich außerhalb von uns selbst. Das ist der Grund, dass wir ohne Widerstand dem Zeit-Geist in vielfältiger Hinsicht - dabei zu sein, ist alles - verfallen können. Zumal unsere Medien-Welt heute vielfach diesen Mangel noch progressiv steuert, halten viele nach einem Surrogat Ausschau; dies wiederum, der vermeintlichen Illusion, zu sich gekehrt zu sein, zum Opfer gefallen. Im Wechsel-Spiel der Illusionen sucht der Mensch - unbewusst - seine Identität, in Wirklichkeit aber zerstreut und vergeudet er damit sein Leben in der ihm gegebenen Zeit. Anstatt die Botschaft des Lebens - seinen Impuls - in der Stille des Schweigens zu empfangen und ihrer Weisung zu folgen, tritt überall das verfügende Zerreden auf den Plan und vergeudet die Kräfte, die notwendig wären, um das uns gegebene Authentisch-sein zu entdecken und letztlich damit eins werden zu können. Insofern mag es für uns wie eine Ironie klingen, wenn eine chinesische Lebens-Weisheit sagt, nichts kostet dem Menschen so viel Kraft wie das Reden. Wir aber können mit dieser Aussage wenig oder sogar nichts anfangen. Vor allem nimmt das viele und nicht selten überstrapazierte, ideologisch gefärbte Reden dem inneren Impuls die Kraft, die uns zur ursprünglich erhaltenden Lebens-Dynamik zurückzubringen vermag. Nur das aus der Identität - unserem Identisch-sein - gesprochene Wort gebiert Leben, während das in Zerstreuung vermeintlich gewonnene Wort dagegen totgeborenes Blendwerk ist. Mit Schweigen meinen wir nicht nur Nicht-Reden, sondern seine Stille muss unser Mensch-sein ganz durchdringen. Wie ein stiller, reiner See bis auf den Grund klar und durchsichtig ist, so verhält es sich auch mit unserem Bewusstsein. Wenn Stille in unser Inneres einkehrt, öffnet sich das uns bislang Verborgene. Um dieser Stille willen müssen wir mit unserem instrumentellen Bewusstsein - den fünf Sinnen, dem Diskursiven, dem Imaginativen, den Gemütsbewegungen -, welches in der Regel nach außen aktiv ist, zur Ruhe kommen. In der Stille haben Beten und Sitzen, die untrennbar sind, ihren natürlichen Ort
 
Beten
Von uns aus wissen wir nicht, in rechter Weise zu beten. Jedoch nicht nur das: im Versuch zu beten, bedrängen uns dann vielfach Zerstreuungen. Wollen wir zum Beten einen Zugang finden, müssen wir dieses Ausgesetzt-sein oftmals über längere Zeit hin aushalten, bis sich uns das Tor hierfür auftut. Erst wenn es tief in uns still wird, entspringt das Selbst-betende aus der unermüdlichen Quelle des Lebens. Zwar müssen wir mit dem äußeren Gebet beginnen: ein Beten, das verbunden ist mit unserem instrumentellen Bewusstsein.  Aber wir dürfen nicht darin hängen bleiben, denn sonst wird das Beten daran gehindert, bis in unseren Grund zu reichen. Durch das ununterbrochene Gebet, wie das Jesus-Gebet etc., werden unsere Sinne und unser Denken allmählich still, indem sie sich von allen störenden Einflüssen reinigen. Das wiederholende Gebet dringt durch seine Verinnerlichung immer tiefer und gründet - sich internalisierend - in unserem Grund. Es wird dann ein Beten in der Identität der -Kern-F, im Verwiesen-sein auf das Leben-Selbst: dieses Beten ist in seinem Vollzug nicht mehr ausschließend, sondern einschließend. Ausnahmslos kann alles Leben daran Teil haben.
 
Sitzen
Der Lotus-Sitz gibt dem Körper die Haltung, um unsere Zerstreuungen zu bündeln und sie zur Ruhe zu bringen, was uns durch das Praktizieren von Zen-Jou - Übung und Verzicht - ermöglicht wird. Unser Geist, der sich stets in Unruhe befindet, muss still werden. Erst dann können wir uns selbst - das Gute und das Böse in unserm Denken, Reden und Tun - durchschauen. In dem Maße, wie sich das Bewusstsein - Gedächtnis, Verstand, Wille - mithilfe des Atems in der authentischen Gegenwart befindet, erwacht der Mensch von innen. Der Weg zum Erwachen ist ein Weg der Reinigung, der Auflösung unserer Widersprüche - Dispositionen -, die das Eigentliche des Lebens beeinträchtigen, indem sie die Vermögen in uns blockieren, sogar negativ binden. Auf diesem Weg des Sitzens wird das in uns eingeschriebene Gesetz des Lebens erkannt: Die Vernunft und der Wille lassen sich nun aus ihrem Verirrt-sein entbinden und in den Willen des Grundes integrieren. Im Erdulden seines eigenen Selbst erlebt der Übende, wie alles, was bisher sein Leben behinderte, sich öffnet hin auf eine größere Weite seines Selbst-seins, bezogen auf das Um-ihn- und Mit-ihm-sein, aber auch auf das ihn Erhaltende: nämlich das Leben-Selbst.
"Die Bezeichnung 'ZEN' stammt aus dem Sanskrit 'dhyãna'. Übersetzt heißt das: im göttlichen Licht alles wahrzunehmen, das - alltägliche - Leben durch den Göttlichen-Hauch arbeiten zu lassen und den Weg zu diesem Leben zu weisen. Das gilt gewiss für alle Religionen, betrachtet man jedoch 'dhyãna' speziell buddhistisch, bedeutet es Unwissenheit, ja sogar ein Vorurteil. Sagt man 'ZA-ZEN', so ist hier der Gesichtspunkt der Sitzhaltung, die natürlicherweise mit 'dhyãna' in Harmonie steht, hinzugefügt. Als ein zentraler Angelpunkt von 'ZEN' gilt: der menschliche Blick wird mit dem göttlichen Blick und der menschliche Atem mit dem göttlichen Atem eins. ... Dies ist ein Punkt, der sowohl dem Hinduismus wie dem Judentum ebenfalls eigen ist. Aus römischer Zeit ist uns überliefert, dass sich die Einsiedler [→Essener] mittels des Atems konzentrierten. Die Bedeutung der Sitz-Haltung jedoch, die mit 'dhyãna' harmonisch ist, lässt sich im europäischen Christentum geschichtlich nicht nachweisen" (Fr. Oshida).
Jedoch, zwei Zweige mit einem ausgeprägten Verständnis für Shugyō - Übung und Verzicht - sollen hier nicht unerwähnt bleiben: die Praxis der → Essener und der Einfluss des → Keltischen, das in seiner Synthese mit dem Frühchristlichen sich als sehr fruchtbar erwies. Überhaupt, es geht darum, zu sehen: die Lotus-Haltung ist jedem Menschen - egal welcher Rasse und Herkunft - angeboren. Aus diesem Grund war es möglich, dass zu allen Zeiten in Gemeinschaften oder aber von Einzelnen diese Sitz-Haltung bewusst praktiziert werden konnte. Weil  diese Haltung Bestandteil der elementaren Vermögen unseres Mensch-seins ist, uns als Ausrüstung für das Leben mit dazugegeben wurde, war es nicht notwendig, sie zu erfinden, sondern sie hat sich natürlicherweise dem Menschen angeboten, um nicht im Irrgarten seines Bewusstseins zu erliegen.
 
Der Zen-Weg - ursprünglich also ein Mönchs-Weg - ist einer der besten Übungswege, die der Menschheit geschenkt wurden. Allerdings ist dieser Weg sehr schwierig zu gehen. Um auf dem Weg in die Klarheit des Schweigens hinein zu reifen - weil nur dort der Lebens-Impuls authentisch zu vernehmen ist -, muss der Übende in seiner Selbst-Konfrontation mit allen in ihm gespeicherten Widersprüchen zum Leben bis zum Äußersten gehen. Weil das auf dem Weg uns Täuschende in allem lauert und seine Verstecke haben kann, muss auch alles Objektbezogene in den Prozess des sich Entäußerns mit eingeschlossen werden. Nur so kann das Leben-an-sich ledig von jeglichem Eigen-Verdienst uns durchdringen. Der Weg des ' ZEN ' ist in unseren Sesshins - den praktischen Übungen -in die Feier der Eucharistie integriert. Im Widerstreit zwischen Licht und Finsternis dürfen wir nicht erliegen. Deshalb sind wir eingeladen, ja, aufgefordert: zu sterben, um zu leben (→Joh 11, 25).
Wir können diesen Weg nur gehen, indem wir ihn miteinander praktizieren. Es geht hier um das Erwachen zu der uns auferlegten Verantwortung, denn diese trägt unser Leben. Die aus ihr gesetzten Akte und deren Wirken lässt uns der tödlichen Vereinzelung entkommen. Ohne das Ver-antworten des In-der-Welt-seins gelangen wir nie zur Freiheit, zur inneren Freiheit, die in unseren Grund gelegt ist.


P. Gebhard Kohler
www.zen-jou.org                                August 2008

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